Die Zukunft nimmt Platz
Interview zum Wandel von „Third Places“ mit der Architektin Jola Starzak
Bahnhöfe, Flughäfen, Einkaufszentren, Büros, öffentliche Plätze: Weltweit wandeln sich die Ideen, wie Third Places gestaltet und genutzt werden können. Heute arbeiten oder entspannen wir
z. B. auch in der Öffentlichkeit. Im Zuge unserer neuen Erwartungen an moderne Infrastrukturen verändert sich auch das Erscheinungsbild unserer Innenstädte.
Jola Starzak (JS) ist Architektin sowie Dozentin für Design an der polnischen "School of Form".
Mit ihrem Team vom Atelier Starzak Strebicki hat sie vielbeachtete Entwürfe für den öffentlichen Raum in Polen, Belgien und in den Niederlanden umgesetzt.
Wir haben mit ihr über die Herausforderungen und Chancen gesprochen, denen sich DesignerInnen im Zusammenhang mit Third Places stellen müssen.
Das Interview führte Schattdecor-Designerin Joanna Misiun (JM).
JM: In den letzten Jahren zeichnet sich in Polen großes Interesse an der Neuschaffung bzw. Wiederbelebung öffentlicher Räume ab. Einige Leute trivialisieren dies. Sie behaupten, dass dieser Wandel lediglich durch EU-Förderungen angestoßen wurde. Du hast als Architektin viel Erfahrung mit dem Thema. Was sind deiner Meinung nach die Schlüsselfaktoren für diese Veränderungen?
JS: Ich denke, da geht‘s nicht nur um EU-Fonds, sondern auch um ein gestiegenes soziales Bewusstsein.
Wir vereinen uns gerade zu einem großen Land namens Europa. Vom Reisen bringt jeder von uns neue Eindrücke zurück nach Hause.
Aus dem Grund sehen wir nun viele Graswurzel-Initiativen rund um das Thema „öffentlicher Raum“. Infolgedessen befassen sich jetzt auch viele Institutionen mit diesem Thema. Sie versuchen, den Erwartungen der BewohnerInnen in vielerlei Hinsicht gerecht zu werden. Die Stimmen der StadtbewohnerInnen werden immer lauter. Behörden und öffentliche Institutionen müssen darauf eben reagieren.
JM: Du nimmst häufig an Workshops und öffentlichen Anhörungen teil. Zudem hast du auch eine ganze Reihe von Forschungsprojekten durchgeführt. Welche Methoden wendest du an, um die Bedürfnisse derjenigen zu definieren, die den öffentlichen Raum nutzen? Welche Vorteile bringt dir dieses Vorgehen?
JS: Das hängt vom Projektkontext ab. Wenn wir z. B. in Belgien öffentliche Räume gestalten, arbeiten wir in interdisziplinären Teams, mit ExpertInnen aus sehr unterschiedlichen Kompetenzbereichen. Da ist dann zum Beispiel einer Experte für Partizipationsprojekte, eine andere Expertin für öffentliche Anhörungen usw.
In Polen werden diese Fähigkeiten häufig vom Architekten oder der Architektin erwartet. Uns gefällt das eigentlich, weil wir Architektur und Design ganz gern durch die geisteswissenschaftliche Brille sehen.
Von unseren Aufträgen im Ausland haben wir gelernt, wie man bestimmte Prozesse abwickelt. Projekte oder Bedürfnisse vorab mit den zukünftigen Nutzern zu besprechen liefert uns wichtige Informationen über einen Raum und die Menschen, die ihn nutzen. Wenn wir einen Raum aus dem Blickwinkel eines Architekten oder Stadtplaners analysieren, lernen wir etwas über ihn. Die Bewohner können uns auch eine Reihe interessanter Dinge erzählen, Nuancen erklären, die auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind und auch nicht mithilfe „architektonischer“ Methoden ermittelt werden können.
Fragen zu stellen und Zusatzinformationen zu erhalten wirkt sich für uns also direkt auf die Qualität der Architektur und letztlich auf das Wohlbefinden der Menschen aus. Für uns steht das in direktem Zusammenhang mit nachhaltigem Design im Kontext der Gesellschaft.
JM: Wie beurteilst du die Situation in Polen vor dem Hintergrund deiner Erfahrungen aus der Projektarbeit in Belgien und den Niederlanden? Haben die Menschen in Polen spezielle Bedürfnisse?
JS: Wir Menschen haben alle ähnliche Bedürfnisse. Denn Städte werden aktuell zur Erweiterung privaten Wohnraums. Dieses Phänomen wird gerade immer deutlicher wahrnehmbar. Immer mehr Menschen nutzen Third Places. Länder wie Belgien, die Niederlande oder Deutschland stecken mit Hilfe von Gesetzen den Rahmen ab, innerhalb dessen wir Architekten arbeiten können. Sie legen aber auch die Qualität des Raums fest, den die Bürger nutzen. Dadurch wird es einfacher, benutzerfreundlichen Raum zu schaffen. Spielen wir diese Überlegung einfach mal am Beispiel „Auto“ durch: In den Niederlanden zahlen Autobesitzer eine sehr hohe Kfz-Steuer. Infolgedessen fahren die Niederländer kleine Autos. Die meisten Familien haben nur ein Auto oder gar kein Auto.
In Polen haben wir keine solche Steuer, sodass viele Familien problemlos bis zu drei Autos haben.
Und es gibt viele ähnliche Beispiele. Ein solcher Ausgangspunkt definiert in gewisser Weise die Parameter und den Kontext des Designs. Um mit dem von mir erwähnten Beispiel fortzufahren: In den Niederlanden gibt es eine wesentlich geringere Anzahl von Autos, weshalb wir ArchitektInnen mit dem Thema auch nur ein kleineres Problem haben. Wenn wir in Polen arbeiten, ist die Frage der Parkplätze und des Verkehrs schon eine größere Herausforderung. Die Bedürfnisse der Menschen in beiden Ländern sind zwar ähnlich. Aber die Dynamik und der Kontext der Projektdurchführung sind völlig unterschiedlich. In den Niederlanden ist alles Teil eines Plans, einer umfassenderen Strategie. In Polen neigen Projekte dazu, eher zufällig, irgendwie beiläufig zu sein, ohne besondere Rücksicht auf das große Ganze zu nehmen.
JM: Deine Projekte weisen oft eigene, originelle Lösungen für Innenräume oder Stadtmobiliar auf. Worauf konzentrierst du dich bei entsprechenden Gestaltungen? Was sind die Herausforderungen für Möbel, die zu den Bedürfnissen derjenigen passen sollen, die sich an Third Places aufhalten?
JS: Wir stellen uns am Anfang immer gern vor, wie Menschen einen bestimmten Raum wohl nutzen werden. Auf Basis dieser Vorstellung definieren wir dann spezifische Parameter, um die herum schließlich eine Idee entwickelt wird. Wichtig für uns ist dabei, Third Places als Orte zu sehen, die Spaß machen und Freude bereiten. Wir versuchen auch nicht zu ernst zu sein, wenn wir Möbel entwerfen.
Deshalb kommen wir manchmal auf die Idee, ein bestimmtes Designelement überraschend groß, zu hoch oder zu weich zu gestalten. Wir wollen, dass die Menschen selbst herausfinden, wie sie solche Elemente nutzen möchten.
Einerseits versuchen wir, Objekte zu schaffen, die für alle (jung, alt, mit oder ohne Behinderung) vorteilhaft und bequem sind. Andererseits wollen wir genügend Freiraum offenlassen. Wir möchten die Benutzer dazu ermutigen, zu vergessen, dass sie sich in einem öffentlichen Raum befinden. Sie sollen sich eher so fühlen, als säßen sie zuhause auf der Couch.
JM: Seit einigen Jahren findet das Konzept des Biophilen Designs immer mehr Beachtung. Kann man das als Trend oder vielleicht sogar als Antwort auf zunehmendes Problembewusstsein sehen, wenn Menschen in Städten und Gebäuden Natur zugänglich gemacht wird?
JS: Ich denke, das ist momentan noch eher Trend als Problembewusstsein – obwohl ja beide Betrachtungsweisen in gewisser Weise miteinander verflochten sind. Immer mehr Menschen fällt auf, dass das Wetter Mitte Dezember wie im Frühling ist.
Wir fangen an, die in den Medien zu lesenden Katastrophenszenarien zu glauben, sie ernst zu nehmen.
Ich glaube, dass es sich lohnt, Pflanzen zu lieben und sich mit ihnen zu umgeben. Aber es scheint mir auch so, dass wir damit noch immer nur einem Trend folgen. Wir befassen uns also nicht bewusst mit diesem Thema. Wir denken nicht daran, dass wir Pflanzen brauchen, weil wir ohne sie untergehen werden.
JM: Keines der 94 öffentlichen Versorgungsgebäude, die das NIK (Oberstes Rechnungsprüfungsamt, Anm. d. Red.) 2018 inspiziert hatte, erfüllt die Anforderungen an Barrierefreiheit, mit denen Menschen mit Behinderungen gemäß dem Prinzip der Gleichberechtigung mit nichtbehinderten Nutzern der Zugang ermöglicht werden soll. Solche Daten sind erschreckend.
Was kann man tun, um öffentliche Räume für alle Nutzer besser zugänglich zu machen? Wie gehst du dieses Thema in deinen Projekten an?
JS: Das ist schlimm. Wir versuchen schon, bei jedem unserer Projekte Lösungen für Menschen mit Behinderungen mitzudenken. Trotzdem stellen wir immer wieder fest, dass uns Fehler bei barrierefreien Entwürfen unterlaufen, und zwar ursächlich deswegen, weil keiner von uns selbst mit einer Behinderungen lebt.
Bei einigen unserer Projekte haben uns Menschen mit Behinderungen unterstützt. Das war toll.
Ein Beispiel: Beim Entwurf eines Cafés half uns die Tochter der Besitzer, die selbst im Rollstuhl sitzt, die gesamte Einrichtung zu testen. Sie überprüfte, ob sie ihren Rollstuhl an allen wichtigen Stellen wenden kann, und ob sie bequem hineinkommen kann. So ähnlich lief auch die Zusammenarbeit mit dem Posener Rathaus: Einer der Angestellten des Rathauses sitzt im Rollstuhl. Er lotste uns und war unser Experte dafür, dass wir solche Fragen gut beantworten konnten.
Immer wieder kommen wir zu dem Schluss, dass es nicht ausreicht, sich nur an Regeln und Normen zu halten. Selbst wenn die Abmessungen korrekt sind, ist nicht unbedingt garantiert, dass ein Raum für Menschen mit Behinderungen komfortabel ist. Was ebenfalls oft vernachlässigt wird, ist die Frage der unterschiedlichen Arten von Behinderungen: körperliche, intellektuelle und sensorische. Es ist ein sehr schwieriges und komplexes Thema, das oft verharmlost wird. Es wäre schön, in einer Welt zu leben, in der jeder den gleichen Zugang zum Raum und zur Nutzung von Gegenständen hat. Genau das ist die Zukunft des Designs.
Malta Festival | Posen
JM: Weil du von Zukunft sprichst: Wie siehst die Zukunft im Zusammenhang mit der Gestaltung von Sharing-Spaces in Polen? Welchen Herausforderungen und Chancen stehen Architekten und Ausstattungshersteller gegenüber?
JS: Was mir wirklich gefällt, ist, dass in meiner Heimatstadt Posen über jeden Baum diskutiert wird, der gefällt wird – obwohl natürlich einige aus Sicherheitsgründen gefällt werden müssen.
Die urbane Frage ist generell eine Herausforderung. Wie können Räume als ein zusammenhängendes Netzwerk funktionieren und wie können wir uns zwischen ihnen hin- und herbewegen?
Wie können es Städte Menschen ermöglichen, sich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortzubewegen, wenn sie ihr Auto in der Vorstadt stehengelassen haben oder überhaupt kein Auto besitzen?
Wie können wir die energetische Neutralität von Gebäuden oder Städten im Sinne von lebendigen Organismen gewährleisten? Dies sind die größeren Herausforderungen der Zukunft. Wie können wir eine Stadt auf natürliche Weise mit guter Luft versorgen? Welche Rolle spielt Grün in dieser komplexen Frage? Wie kann uns Begrünung helfen, die Lebensqualität in den Städten zu verbessern
und uns vor dem Klimawandel zu schützen? Muss wirklich alles aus Beton sein? Muss alles perfekt gerade geschnitten und vom Menschen kontrolliert werden? Oder können wir über wilde Bäume und Reben, Urban Gardening, Kühlung und Belüftung der Städte mithilfe neuer Entwurfsstrategien zumindest mal nachdenken?
Yoga-Posen
Wenn es um die Gestaltung von Architektur, Produkten, Möbeln und Geräten geht, werden Langlebigkeit und Respekt vor den verwendeten Materialien und Ressourcen entscheidend sein. Ich denke, dass ein Raum, ein Gebäude oder ein Objekt an sich weniger wichtig sein werden. Stattdessen werden ihr Schaffensprozess und ihre Langlebigkeit umso ausschlaggebender sein. Die Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen in einem Raum und die Art und Weise, in der sie als System funktionieren (Stichwort: Kreislaufwirtschaft), werden an Bedeutung gewinnen. In den Benelux-Ländern achten Auftraggeber von Architekturprojekten auf solche Fragen.
Im Entwurfsauftrag ist festgelegt, dass die in einem neuen Projekt verwendeten Materialien
recycelt werden (dass sie z. B. aus Abrissgebäuden stammen müssen) oder aus lokalen Ressourcen stammen müssen.
Weitere wesentliche Punkte werden Life-Cycle Assessment (LCA) und Social Life Cycle Assessment (S-LCA) sein. Da geht’s darum, über Design im Zusammenhang mit seinem Einfluss auf die umgebende Umwelt, seines ökologischen Footprints sowie um Angelegenheiten im Zusammenhang mit sozialen Fragen nachzudenken. Vielleicht werden wir neutrale, multifunktionale Räume schaffen, die an aktuelle Bedürfnisse oder veränderte Klimabedingungen angepasst werden können.