Cocooning Teil 3

Wabi-Sabi by Schattdecor

Das uralte Ästhetikprinzip „Wabi-Sabi“ gründet tief im Zen-Buddhismus. Via Instagram ist es nun auch im Westen angekommen. Sein Objektdesign ist melancholisch: Es bildet die Vergänglichkeit der Dinge ab. Sofern wir uns auf seine Botschaft einlassen, trainieren wir damit, „das Leid in uns selbst zu akzeptieren“. Das passt hervorragend in unsere Zeit. Willkommen im dritten Teil unserer Cocooning-Trilogie!

Wabi-Sabi ist in aller Munde! Mit dieser Einleitung sparen wir uns die obligatorisch-augenzwinkernde Bezugnahme auf die ähnlich klingende, höllenscharfe Meerrettichpflanze. Stattdessen richten wir unsere Aufmerksamkeit direkt auf die Strahlkraft eines traditionellen Schönheitsideals, das in Teilen Asiens seit dem 16. Jahrhundert bekannt und bis heute überall im Alltag präsent ist.

Wabi-Sabi ist im Westen angekommen

Via Globalisierung, Digitalisierung und Social Media ist Wabi-Sabi kürzlich über den asiatischen Raum hinaus expandiert und lässt seine melancholische Botschaft nun auch auf die verdutzten Westerners einwirken. Überall stehen plötzlich Wabi-Sabi-Objekte und fordern uns dazu auf, sie zu sehen, sie zu verstehen und ihnen Raum innerhalb unserer bestehenden Design- und Denkansätze zu geben.

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„Bewundert man die Kirschblüten
nur in ihrer vollen Pracht,
den Mond nur an einem wolkenlosen Himmel?


Sich im Regen nach dem Mond sehnen,
hinter dem Bambusvorhang sitzen,
ohne zu wissen, wie sehr es schon Frühling geworden ist –
auch das ist schön und berührt uns tief.“


Yoshida Kenkō, Zen-Mönch,
um 1283 bis ca. 1350

Für viele Menschen erschließt sich das östliche Schönheitsideal jedoch nicht ganz so leicht – zu weit weg sind westliche Gesellschaften von der philosophischen Vorstellung, dass uns alltägliche Objekte Geschichten erzählen könnten. Und dann fehlen uns ja allein schon die Begrifflichkeiten, um Wabi-Sabi 1:1 in unsere Sprachen oder Kulturen übersetzen zu können. Wie schon bei „Hygge“ im Teil 1 dieser Artikeltrilogie müssen wir uns auch hier wortreich an die Beschreibung einer fremden Designsemantik annähern. Wir erfahren, dass [wabi] „sich allein, elend, einsam, verlassen und verloren fühlen“ bedeutet. [sabi] hingegen bedeutet ebenfalls „allein“, dann aber auch „gealtert“, „gereift“, „mit Patina überzogen“.

Hilft uns das schon weiter? Nein. Schnell ein Blick auf Instagram, #WabiSabi. Aha. Google-Bildersuche „Wabisabi“. Aha, aha!

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Mit Hilfe von Contents, Bildern und Looks tasten wir uns an das Wabi-Sabi-Gefühl heran. Noch bleiben viele Fragen offen: Woraus, aus welchen Weltanschauungen schöpft dieses Schönheitsideal denn eigentlich? Warum tun wir uns so schwer, es intuitiv zu entschlüsseln?

Unsere Schattdecor-DesigernInnen haben sich zur Klärung ein paar achtsam-entschleunigte Gedanken gemacht. Diese nachzulesen lohnt sich. Schließlich passen Designerzählungen von der stillen Zufriedenheit über die einfachen Dinge ganz wunderbar in unsere Zeit.

Welche Ästhetikideale uns in Europa geprägt haben

„Wabi-Sabi“ rein über seine Wortbedeutung oder über seine Objekte zu verstehen, das gelingt westlich erzogenen Menschen wie schon gesagt nicht mühelos. Irgendwie fremd, irgendwie kompliziert erscheint uns das Prinzip auf den ersten Blick. Begeben wir uns also auf einen Umweg und verdeutlichen uns zuerst die gewohnten eigenen Schönheitsideale, um uns danach an die fremde Perspektive anzunähern.

Und schon geht’s los: Dieser Artikel wurde beispielsweise in Wien verfasst, umgeben vom kaiserlich-königlichen Beeindruckungspomp der Habsburger. Die Schönheitsideale der griechischen Antike finden sich hier allerorten im Straßenbild wieder. Vom Barock der Hofburg übers Parlamentsgebäude – das so tut, als sei’s ein griechischer Tempel – bis hin zum Schloss Schönbrunn stecken unzählige Wiener Architekturen voll von den Botschaften der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Konzipiert für den Ewigkeitsanspruch einer fünfhundertjährigen Herrscherdynastie kommunizieren diese Objekte die Ästhetik des Abendlandes: Beständigkeit, Größe, Symmetrie und Perfektion.

Die Natur in westlichen Schönheitsidealen

Die Städte Europas stecken voll von solchen imperialen Allmachtsnarrativen. Sogar die Natur wird innerhalb westlicher Ästhetiken seit Jahrtausenden reguliert dargestellt, „perfekt“ scheinende Phänotypen überbetont: Aus dieser Logik heraus inszenieren die Schlossgärten Europas eben nicht die 98 % nicht-perfekter Natur, sondern die 2 % perfekt wirkender Natur. Das stilisiert den Menschen zur Krone der Schöpfung, der die Natur als Stellvertreter Gottes zähmt.

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Eine Langzeitfolge aus unserer jahrhundertelangen Programmierung auf Perfektion und Macht ist, dass die meisten Objekte im Westen heute nur dann etwas zählen, wenn sie symmetrisch, makellos und neuwertig sind. Mit den ersten Gebrauchsspuren sind sie weniger bis nichts mehr wert, darüber könnten eBay-VerkäuferInnen Romane schreiben. Ein Auto verliert allein durch den Akt des Kaufs bis zu zwei Drittel seines Neupreises – es muss dafür noch keinen Meter gefahren worden sein. Das erzählt uns natürlich etwas über den hohen Stellenwert, den das Niegelnagelneue in unseren Gesellschaften einnimmt. Dass das Wiener Parlament wie auch Schloss Schönbrunn permanent mit hohem Aufwand renoviert werden müssen, damit sie dem ihnen zugeschriebenen Ästhetikanspruch überhaupt gerecht werden können ... das steht auf einem anderen Blatt.

Zurück zu Wabi-Sabi

Man möchte sagen: Das glatte Gegenteil von Wabi-Sabi. Das Melancholie-Design von Wabi-Sabi-Gegenständen ist demütig. Es erzählt keine Geschichten über die Statussymbole einzelner Götter, Menschen, Herrschergeschlechter oder Kulturen. Seine Narrative zielen vielmehr auf eine spirituelle Dimension ab, denn Wabi-Sabi-Objekte lobpreisen den kontemplativen Augenblick und die Schönheit des Imperfekten. Ganz anders als in Europa zeichnen sich in Wabi-Sabi-Gegenständen Unbeständigkeit, Bescheidenheit, Asymmetrie und Unvollkommenheit als gesellschaftliche Werte ab. Jedes Stück wird mit Wabi-Sabi-Gestaltung zur Hommage an die Zeitlichkeit der Dinge, zur Liebeserklärung an die Poesie des Imperfekten. Da ist ein Hausdach nicht so steril-perfekt und sauber, wie es sein könnte, sondern absichtlich mit Moos überwuchert. Hier ist ein Teekessel von Patina gezeichnet, dort prangt ein unschöner Riss auf Keramikobjekten.

Die schöpferische Virtuosität beurteilt sich im Wabi-Sabi-Ansatz nicht danach, wie viel Karat Gold verarbeitet wurde, sondern wie naturgetreu die erschaffenen Gegenstände die Realität wiedergeben. 

Mit der Gestaltung der Insignien ihres Alterns gewinnen Gegenstände Individualität und Charakter. Ihre Blessuren und Makel lösen Empathie bei uns aus, ringen uns Wertschätzung ab. Warum? Weil sie offensichtlich – genau wie wir – eine persönliche Geschichte zu bieten haben. Im Erkennen dieser Gemeinsamkeit tun wir den ersten Schritt zur Identifikation mit und zur Bindung ans Objekt. Indem wir Wabi-Sabi-Gestaltung auf uns zurückwirken lassen, sie personifizieren, öffnet sich ein Fenster, durch das wir unsere eigene Vergänglichkeit erkennen.

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„Ich hab 'ne gute Nachricht und 'ne schlechte auch.
Zuerst die schlechte: Wir zerfall'n zu Staub.
Wir werden zu Asche, kehren in das Nichts
zurück, aus dem wir alle einst gekommen sind.
Und jetzt die gute: Heute nicht!
Es bleibt noch Zeit für dich und mich.“

Danger Dan, „Eine gute Nachricht“ (2021)

Unser Weg zu Wabi-Sabi

Wabi-Sabi eröffnet uns Westernern einen neuen Zugang zum Objektdesign. Die demütige Idee, dass sowohl wir als auch unsere menschlichen Kreationen imperfekt und vergänglich sein dürfen bzw. sogar sollen und zu zeigen, dass wir alle etwas Höherem als Menschen unterstehen, macht uns weich. Sie defragmentiert unsere innere Überladenheit und rückt uns wieder näher an Kontemplation, Ruhe, Tiefgang, Entspannung, Zufriedenheit und inneren Reichtum heran. Spätestens mit dieser Erkenntnis landen wir wieder bei dem, was der japanische Teemeister und Zen-Mönch Sen no Rkyū schon vor fünfhundert Jahren auf den Punkt gebracht hatte:

„In dem engen Teeraum kommt es darauf an, dass die Utensilien alle etwas unzulänglich sind. Es gibt Menschen, die eine Sache schon beim kleinsten Mangel ablehnen – mit solch einer Haltung zeigt man nur, dass man nichts verstanden hat.“
Sen no Rikyū, japanischer Teemeister und Zen-Mönch, 16. Jhdt.
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Wabi-Sabi-Objekte fordern uns auf, über sie und uns selbst nachzudenken

Immer wenn wir uns wirklich auf ein Objekt einlassen, beginnen wir zu träumen – und zwar egal, ob es sich dabei um ein Schloss in Wien oder um ein Wabi-Sabi-Objekt mit einem kunstfertig gestalteten Makel handelt. Aber was wir dabei träumen, leitet sich von grundverschiedenen Ontologien ab: Die Botschaft eines Wabi-Sabi-Objekts ist nahbar. Anders als Schloss Schönbrunn macht es überhaupt keinen Hehl draus, dass es dem Verschleiß unterliegen wird. Weil ihm die Vergänglichkeit gleich von vornherein ins Design eingeschrieben ist, bauen wir eine Beziehung zum Objekt, zu seinem Schöpfer und zu uns selbst auf, während uns die Wiener Architektur staunend außen vorlässt. Wabi-Sabi-Gestaltung transportiert uns direkt ins Poetische, denn das Objekt selbst betreibt Storytelling: Wir alle treten als bedeutungslose Sidekicks in einem niemals begonnenen, niemals endenden Theaterstück namens „Zeit“ auf.

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Der Mensch und die Zeit

Wenn wir uns auf das romantisch-spirituelle Narrativ eines solchen Objektdesigns einlassen, dann können wir auf einmal spüren, wie gigantisch groß die Ewigkeit ist. Und wie winzig klein und vergänglich wir Menschen. Darüber müssen wir Melancholie empfinden. Eine unbestimmte Hoffnung befällt uns. Wir beginnen uns nach etwas zu sehnen, woran unser Dasein wurzeln kann, das uns unsere eigene Existenz greifbar, erklärbar macht. Auf der anderen Seite keimt in uns die Dankbarkeit hoch, dass wir Menschen – wie dieses Objekt – wenn auch nur für kurze Zeit eine Rolle im Hier und Jetzt spielen dürfen.

In der Konfrontation mit dem Objekt verstehen wir, dass wir nicht das Objekt selbst wertschätzen sollten. Sondern den winzigen Augenblick, der uns auf Erden geschenkt ist. Und Überraschung: Auch für diese Empfindungen, die Wabi-Sabi-Objekte in uns auslösen, gibt es im Japanischen ein eigenes Wort. Mono no aware bezeichnet genau jenes Gefühl von Traurigkeit, das der Vergänglichkeit der Dinge nachspürt, sich aber schlussendlich doch mit ihr abfindet.

Selbstwirksamkeit in rauen Zeiten

Warum das Wabi-Sabi-Design gerade so viel Anklang findet, liegt aus unserer Sicht auf der Hand. Wir leben in einer rauen Zeit, in der unser Bedürfnis nach Sinn, nach Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit Antworten fordert. Wir entschleunigen unser Leben, räumen auf, trennen uns von Dingen, schaffen Ordnung und versuchen, wenn schon nicht die Kontrolle über eine immer verrückter werdende Welt, so doch wenigstens die über unser eigenes Leben zurückzuerlangen.

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The Making of – die Konstruktion von Wabi-Sabi

In unserem Wohnraum entwickeln wir indes eine nie gekannte Vorliebe für lebendige, organische Materialstruktur, Formsprache und Raumästhetik: Das Unvollkommene, die Alterung von Gegenständen durch Witterung oder Gebrauch werden in Japan als perfekt und ästhetisch vollkommen angesehen. Das bringt auch uns in diesen Zeiten weiter. Denn Unregelmäßiges nährt unsere Seele viel mehr, als Perfektes es je könnte.

In der Gestaltung lebt Wabi-Sabi von Kontrasten zwischen hell und dunkel sowie von einer natürlichen Haptik, die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit ausstrahlt. So konstruiert das traditionelle japanische Handwerk „perfekte Imperfektion“.

Wieviel Wabi-Sabi steckt in Schattdecor?

Da ist die Frage erlaubt, ob dieses Schönheitsideal auch an moderne, industriell hergestellte Objekte angelegt werden darf. Und die Antwort ist: freilich! Die Qualitätskriterien sind Asymmetrie, Unkompliziertheit, der Verwitterungsgrad sowie die Nähe zur Natur, funktionale Unzulänglichkeit, die Loslösung vom Weltlichen – und eine stille Atmosphäre.




Liam Gold, 4000501-01-000

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Östliche und westliche Schönheitsideale

Ein Schönheitsideal ist weder gut noch schlecht, eins ist nicht besser als das andere. Aber es ist spannend, historische, philosophische, religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Codes zu entschlüsseln, um damit mehr über die eigene Weltanschauung zu lernen.

Die Podcaster Melissa Lee und Marco Walz vom deutschsprachigen Kanal NIPPOD zum Beispiel nennen Japan – im Gegensatz zum Westen – ein „ästhetisch strukturiertes Land“: Während die JapanerInnen die Ästhetik von Wabi-Sabi seit Jahrhunderten, bis heute, im Alltag leben, können wir die griechische Mythologie im Design unserer eigenen Kulturen kaum mehr verstehen.

Wabi-Sabi funktioniert über unsere Neugierde, unsere Phantasie und unser Erkenntnisvermögen. Es funktioniert über das Akzeptieren einer Wahrheit, die unendlich viel größer ist als wir selbst. Achtsamkeit fürs Objekt ist der Schlüssel, mit dem wir uns diese Wahrheit erschließen. Und wer weiß? Womöglich finden wir dank unserer neugewonnenen Kontemplationsfähigkeit sogar den verloren gegangenen Schlüssel zur antik geprägten Ästhetik Europas wieder.