Let’s go get lost, let’s go get lost!

Teil 1: Eskapismus ins Grüne

In den vergangenen beiden Jahren hat Europa das Nomadendasein wiederentdeckt. Der neue Trend heißt: Raus von zuhause, sich irgendwo da draußen in der großen weiten Welt verlieren. Passend zur begonnenen Outdoorsaison werfen wir einen Blick darauf, mit wieviel Kreativität und in welchen Vehikeln die Menschen ihre Flucht aus dem Wohnzimmer angetreten haben.

Eskapismus 2021!

Im vergangenen Sommer haben Menschen auf der ganzen Welt fantasievolle Mittel und Wege gefunden, um sich aus geschlossenen Räumen ins Freie zu beamen. Viele von uns sind mobil geworden. Wir haben uns auf den Weg gemacht, unsere Freizeit ins Grüne verlagert. Unsere Siebensachen – und manche von uns sogar den Beruf – haben wir einfach mitgenommen. Homeoffice auf vier Rädern? Ganz genau, Hauptsache draußen!

“Road trippin' with my two favorite allies
Fully loaded we got snacks and supplies
It's time to leave this town,

It's time to steal away
Let's go get lost anywhere in the USA
Let's go get lost, let's go get lost”

Road trippin' | Red Hot Chili Peppers

 

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Unvermittelt rückte die Frage nach den Vehikeln für unseren Aufbruch ins Grüne in den Fokus. In Europa wollte plötzlich jeder einen Caravan, ein Wohnmobil oder je nachdem einen Wohnwagen. Marc Dreckmeier vom deutschen Caravaning Industrie Verband (CIVD) kennt die Zahlen: Im Jahr 2021 verbuchte der europäische Markt für Freizeitfahrzeuge spektakuläre 9,9 Prozent Plus – gegenüber dem noch spektakuläreren Vorjahresplus von 11,6 % (Info: Stand 14.01.2022). Erstmals wurden fast 260.000 Freizeitfahrzeuge zugelassen, womit die europäische Caravaning-Branche zum fünften Mal in Folge das beste Jahr ihrer Geschichte feiern darf. Die EuropäerInnen haben eindeutig Reisefieber.



Genau wie Kornelia!

Kornelia Karwacka, eine Schulfreundin unserer Kollegin, Joanna Misiun, hat ebenfalls Reisefieber: Normalerweise ist sie als Tourismusexpertin auf der ganzen Welt unterwegs und begleitet polnische Touristen zum Beispiel durch Australien, Neuseeland oder Afrika. Mit der Pandemie war ihr Job von jetzt auf gleich pausiert. Im Warschauer Lockdown beschloss sie gemeinsam mit ihrem Partner, endlich das zu tun, was sie schon immer hatten tun wollen:

Sie erstanden einen alten Ford Transit Caravan und bauten diesen innerhalb von zwei Monaten mit Hilfe von Do-it-yourself-Videos wohnlich, praktisch und genau nach ihren Vorstellungen um. Wie schon Kornelias Großvater zu Zeiten des Eisernen Vorhangs tingelten die beiden Freelancer darin nach Kroatien, wo sie drei strahlend sonnige Wochen auf ihren ersten eigenen, winzigen sieben Quadratmetern genossen – inklusive vollem Equipment wie Toilette, Miniküche, Indoor- und Outdoor-Dusche. Und während Kornelia endlich einmal ausgiebig Zeit zum Nachdenken hatte, kam ihr gleich die nächste Idee, auf die wir weiter unten zurückkommen.

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Zelt, Datsche, Hytte, Schrebergarten

Auch für Fernwehgetriebene, die nicht hoffnungslos dem Caravanfieber verfallen waren, taten sich unendliche Möglichkeiten auf. Die einen gingen wie früher schlichtweg zelten, verzichteten auf Wohnannehmlichkeiten und gaben sich bewusst dem Spartanischen hin. Andere suchten gezielt nach Luxus-Glampingangeboten, nach opulent eingerichteten Yurten oder nach mit WLAN-ausgestatteten Baumhäusern. Beim Leben unter freiem Himmel wollten sie maximales Freiheitsgefühl mit maximalem Wohnkomfort übereinbringen.

Überall erlebten derweil auch stadtnahe Kleingartenkonzepte ihre Renaissance. Unsere Kollegin Joanna Misiun berichtete uns zum Beispiel, dass sich die Preise für nach dem Fall des Kommunismus‘ total out gewordenen Działka – also der in ganz Osteuropa beliebten Wochenendhäuser – verdreifacht hätten.

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„Beginnend mit dem Jahr 2020 beobachten wir in Polen einen irrsinnigen Run auf die Wochenendhäuschen. Aufgrund schier unglaublicher Nachfrage sind die Preise für so eine Działka in den Himmel gewachsen: Im Moment kann die Miete für ein kleines Stückchen Land mit einer Działka drauf leicht so viel kosten wie eine ganze Wohnung.” 

Joanna 'Asia' Misiun, Designerin bei Schattdecor Polen


Auch in Norwegen eine hytte, in Tschechien eine Chata bzw. Chalupa oder in Ostdeutschland eine Datsche zu ergattern konnte man sich wegen der hohen Nachfrage eigentlich aus dem Kopf schlagen. In weiten Teilen von Deutschland, Österreich und der Schweiz schienen die Angebote für Schrebergärten und Kleingärten wie leergefegt.


‚Działkowanie‘ – auf Polnisch gibt es ein Wort für die Kunst, auf der eigenen Parzelle echten Lifestyle zu kultivieren

Für Joanna ist klar, dass die Aufwertung des Prinzips „Działka“ daher rührt, dass die Menschen mit der Krise ihre Leidenschaft für die Natur wiederentdeckt haben. Dahinter steht aus ihrer Sicht aber auch eine viel ältere Sehnsucht nach mehr Grün im Leben, welches in vielen Innenstädten fehle.

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„Die Nähe zur Natur darf kein Privileg von wenigen werden: Innovative Stadtplanung muss endlich mehr Grün in die Nähe der Menschen und in die Metropolen bringen.“
Michela Avancini, Designerin Schattdecor Italien

Sogar sehr persönliche Miniwünsche, wie chillen, sich gesund zu ernähren oder seine eigenen Möhrchen zu ziehen, sind Joannas Beobachtung nach nicht zu unterschätzende Trendpusher. Es seien vor allem junge Menschen, Millenials, Eltern mit kleinen Kindern, die sich nun wieder für die eigene Scholle in Stadtnähe oder gleich auf dem Land interessierten. Dort könnten sie mit der Natur in Kontakt kommen und sich wie im Urlaub entspannen, ohne jedoch allzu weit anreisen zu müssen.



Das Tiny House

Das Tiny House auf der grünen Wiese ist der minimalistisch-selbstbestimmte Wohntraum vieler Millennials. Early Adopters treiben die Lösungen für bezahlbaren Wohnraum, Wohnen auf kleinem Raum und gegen urbane Wohnungsknappheit voran. Die IKEA Stiftung zum Beispiel unterstützt das Tiny-House-Projekt Wohnmaschine des Berliner Architekten Van Bo Le-Mentzel. Und zusammen mit den Tinyhouse-Experten von Vox Creative und Escape Traveler soll das schwedische Einrichtungshaus derzeit sogar an seinem eigenen Minihaus tüfteln.

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Camping + Glamour = Glamping

Unserer Kollegin Michela aus Italien sind derweil spektakuläre neue Arten zu Campen aufgefallen. In der Region um Cortina d’Ampezzo, haarscharf an der italienisch-österreichischen Grenze zum Beispiel hat sie einen ... ja wie nennt man das denn gleich? ‚Highend-Campingplatz‘? ‚Luxuscampingplatz‘? ‚Glampingplatz‘? ... gesichtet. Dort verbringen die Gäste zwar immer noch viel Zeit an der frischen Luft – das ist aber auch schon das einzige, was diese Art Camping noch mit selbstgenügsamem Zeltengehen gemeinsam hat.

Ansonsten kann man dort und auf anderen Glampingplätzen jede Menge Geld im glampingplatzeigenen Luxus-SPA lassen, sich mit den DOC-prämierten Weinen der Region verwöhnen oder in edelsten piatti der cucina italiana schwelgen. Der am großzügigsten bemessene Stellplatz umfasst hier 600 Quadratmeter – für ein einziges Wohnmobil! Da bleibt nicht mehr viel übrig vom Gschmäckle „Urlaub für Arme“, welches dem Campen noch bis vor Kurzem anhaftete.

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Schon am 11. Mai 2021 berichtete die Redaktion von campeggi.com in ihrem „Camping-Report“ von 656 % mehr Suchanfragen nach „Ferien unter freiem Himmel“ in Italien. Cristian Capizzi, CEO von KoobCamp, erklärt: „Hatten sich bis vor einigen Jahren noch eher eingefleischte Campingfans für einen Urlaub unter freiem Himmel entschieden, so ist in den vergangenen Monaten der Wunsch, den Kontakt mit der Natur zu intensivieren, in den Köpfen vieler Italienerinnen und Italiener herangereift.“

Und mit der Nachfrage wachsen die Glampingangebote. Neue Plattformen wie das italienische Gardensharing bringen im bewährten Vermittleransatz von Airbnb TouristInnen mit AnbieterInnen von Gartenflächen zusammen, auf denen Reisemobile abgestellt werden dürfen.


Oder Lodge-Urlaub in Masuren?

Womit wir, wie versprochen, zurück bei Kornelia Karwacka wären. Auf ihrem Caravantrip durch Kroatien erinnerte sie sich nämlich daran, wie sie in Kenia erstmals touristische Lodge-Zelte im Hemingway-Stil bestaunt hatte. In Kroatien traf sie auf einem Sieben-Sterne-Campingplatz zum zweiten Mal auf solche traumhaften Übernachtungsangebote. Und in dem Moment wusste sie, dass sie diese Idee zurück nach Hause bringen wollte. Sie beschloss, dem lässigen, aber lärmigen Warschau endgültig den Rücken zuzukehren und im Dorf ihrer Kindheit in der malerischen Woiwodschaft Ermland-Masuren ein trendiges neues Business zu starten.

„Mikołajki hat 3.800 Einwohner. Schon als Kind kann ich mich an die vielen Touris in unserem Dorf erinnern. Damals zog es mich immer nur weg, hin zu Orten, die mir größer, bedeutender erschienen. Erst nach vielen Reisen habe ich erkannt, wie schön mein Geburtsort in Wirklichkeit ist. Da wollten wir unbedingt etwas Neues starten: Mein Freund und ich kündigten unsere Wohnung, verließen die Großstadt und zogen zurück nach Hause.“

Kornelia Karwacka, frischgebackene Glampingplatzanbieterin in Masuren

Mithilfe von Kornelias Vater, einem passionierten Heimwerker mit einem schier endlosem Fundus von Dingen, „die man sicher irgendwann einmal brauchen kann“ (kennen wir ja von unseren eigenen Vätern), entstand Glamping Mikołajki im Garten ihrer Kindheit. Dort bietet die Tourismusexpertin modernen NomadInnen nun zwei lodgeartige Luxuszelte, direkten Kontakt mit der Natur, herrliche Nächte unter Sternen sowie ein Dörfchen mit barocken Kaufmannshäusern und pittoreskem Minihafen.

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Blick auf China und in die USA

In den vergangenen beiden Jahren durften wir erfahren, dass Geselligkeit nicht unbedingt immer innerhalb von vier fest auf einem Betonfundament stehenden Wänden stattfinden muss. Herausforderungen haben die Menschen schon immer erfinderisch gemacht. Es ist herrlich, wie mobil Europa geworden ist und wie die junge Abenteurercommunity das Leben auf vier oder mehr Rädern zelebriert.


In der Fortsetzung dieses Artikels lernen wir Jens kennen, dessen Familie aus begeisterten Caravanistas besteht. Dann gehen wir der Frage nach, ob der Eskapismusboom raus ins Grüne auch in China stattgefunden hat. Und abschließend werfen wir einen Blick auf die Revolution innerhalb der jahrzehntealten Mobile-Home-Kultur in den USA. Dort wählen Menschen aus unterschiedlichsten Gründen ein mobiles Leben. Allerdings meist nicht, um zu reisen. Sondern, um in ihren Fahrzeugen zu wohnen.